FAQ: Rattenlinien

FAQ zum Buch Rattenlinien von Martin von Arndt. – Sie haben JavaScript in Ihrem Browser deaktiviert. Um den Inhalt der Tabs anzeigen zu können, brauchen Sie aber ein aktiviertes JavaScript. Wenn Sie nicht wissen, wie dies funktioniert, folgen Sie bitte der Anleitung unter diesem Link.

Rattenlinien

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Rattenlinien: Was heißt das eigentlich?

 

Der Begriff »Rattenlinien« beschreibt in der Fachsprache des US-amerikanischen Geheimdienstes die Fluchtrouten für deutsche Kriegsverbrecher nach 1945. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen?

Die Anregung verdanke ich einer Leserin von Tage der Nemesis. Sie wünschte sich eine Fortsetzung des Buchs, in der gezeigt wird, wie Andreas Eckart und seine Assistenten Ephraim Rosenberg und Gerhard Wagner durch die Nazizeit kommen. Ich habe lange recherchiert und bin schließlich auf das Buch „Nazis auf der Flucht: Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen“ von Gerald Steinacher gestoßen. Darin wertet der Historiker neueste Erkenntnisse zu den Rattenlinien aus. Das hat mich so sehr fasziniert, dass ich beschlossen habe, meinen nächsten Roman 1946/47 zwischen Brenner und Bozen anzusiedeln.

Rattenlinien ist bereits Ihr zweiter Roman rund um den Ermittler, ausgebildeten Psychiater und Psychoanalytiker Andreas Eckart. Was hat er bereits alles erlebt?

Eckart ist Sohn eines deutschen Diplomaten und einer römischen Mutter. Im Berlin der Kaiserzeit hat er es daher nicht immer leicht, seine Umgebung fragt ihn beständig, zu welchem Land er nun eigentlich halte. Deshalb meldet er sich nach seinem Medizinstudium als Kriegsfreiwilliger für Deutschland. Bei einem Einsatz an der Westfront wird er verschüttet und überlebt nur durch einen Zufall. Eckart wandelt sich zum überzeugten Pazifisten, aber das traumatische Ereignis hat einen Morphinisten aus ihm gemacht.
Bei der Berliner Kripo erlebt er Anfang der 1920er Jahre seine spektakulärsten Fälle: Attentate gegen die Verantwortlichen des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich. Das ist auch das Thema des ersten Eckart-Buchs Tage der Nemesis.
Später wird er „weggelobt“ in die sogenannte „Politische Polizei“. Das ist eine Elite-Einheit, die Straftaten mit radikalpolitischem Hintergrund aufklärt. Hier erwirbt er sich einen Ruf als „Nazifresser“, der ihm aber übel bekommt. Nach Hitlers Machtergreifung wird Eckart als „politisch unzuverlässiges Element“ aus der Polizei entlassen und gerät ins Fadenkreuz der Gestapo. 1934 kann er in die USA fliehen und führt ein sehr zurückgezogenes Leben. Bis er Ende 1946 durch den amerikanischen Heeresnachrichtendienst CIC als „Nazijäger“ reaktiviert wird, was ihm zuerst gar nicht so recht ins Konzept passt…

Und welche Herausforderungen stehen ihm nun bevor?

Die größte Herausforderung ist, seine auf der Flucht befindliche Nemesis zu fangen: Gerhard Wagner.
Wagner ist ein ehemaliger Kollege Eckarts bei der Kripo. Er machte Karriere in SS und Gestapo, und mit seinen brutalen Verhörmethoden und der Drohung, ihn ins Konzentrationslager zu verfrachten, trieb er Eckart ins amerikanische Exil. Als der Feldzug gegen die Sowjetunion begann, führte Wagner eine Einsatzgruppe, die im Rücken der Wehrmacht Juden und Partisanen „liquidierte“. Anschließend wechselte er in den SS-Geheimdienst, um ein antisowjetisches Spionagenetzwerk aufzubauen. Er wurde gefangengenommen und in einem Kriegsgefangenenlager interniert, aus dem er aber rasch ausbrechen konnte.
Für Eckart ist Wagner zum Symbol des Dritten Reichs geworden. Zumal sich Eckart durch sein eigenes Versagen in der Politischen Polizei die Mitschuld daran gibt, dass jemand wie Wagner Karriere machen konnte. Das zeigt, wie motiviert (oder sogar übermotiviert) er ist, Wagner wieder einzufangen. Aber der ist längst ein mit allen Wassern gewaschener SS-Mann, fest entschlossen, über Leichen zu gehen, um nach Südamerika zu entkommen.
 

Rattenlinien: Flucht und Migrationsbewegungen

 

Flucht- und Migrationsbewegungen sind in Ihren beiden Kriminalromanen ein wichtiges Schlagwort. In Tage der Nemesis macht sich Eckart auf, die geflohenen Drahtzieher des Genozids an den Armeniern zu finden und zu stellen; und Rattenlinien setzt dann 1946 ein, als sich deutsche Kriegsverbrecher in Massen in andere Länder absetzten und überhaupt der ganze Kontinent in Bewegung war. Was interessiert Sie an diesen Themen?

Es ist ein Thema, dem man sich als engagierter Autor heute ja nicht ernsthaft entziehen kann. Sicherlich gibt es bei mir auch eine biographische Komponente: Meine eigene Familie war Teil dieser durch den Zweiten Weltkrieg ausgelösten Fluchtbewegung.
Allerdings geht es in Rattenlinien primär um die Flucht der Täter. Derjenigen, die sich ihrer Verantwortung entziehen möchten. Und das führt direkt zum Lebensthema meines Protagonisten Andreas Eckart: Er will die Täter in die Verantwortung zwingen, das Vertuschte ans Licht holen, zeigen, wer die Profiteure der Verheimlichung sind.
Der von mir sehr verehrte französische Autor Robert Merle sagte einmal über NS-Deutschland: „Es ist alles möglich in einer Gesellschaft, deren Handlungen nicht mehr von der öffentlichen Meinung kontrolliert sind.“ Schon in Tage der Nemesis fühlt sich Eckart verpflichtet, den vertuschten Völkermord an den Armeniern durch die Erkenntnisse, die er während seiner kriminalpolizeilichen Ermittlungen gewinnt, an die Presse weiterzuspielen. Er will Öffentlichkeit erzeugen. Ganz ähnlich beabsichtigt er auch in Rattenlinien zu handeln. Nur dass er jetzt wesentlich gefährlicheren Gegnern und einem viel komplizierteren Ränkespiel gegenübersteht und die Mission, „aufzuklären“, seinen Tod bedeuten kann.

Ist die Geschichte von Andreas Eckart nun auserzählt – oder erwarten uns weitere Bände?

Eine gute Frage. Ich sehe mich ja nach wie vor nicht als Autor von Fortsetzungsromanen, aber manchmal gewinnen Figuren eben auch ihr Eigenleben. Gerade Eckart hat viel Zuspruch durch meine Leserinnen und Leser erfahren, und selbst wenn er in Rattenlinien mittlerweile sechzig Jahre alt ist – jemand wie er kennt keinen „Ruhestand“. Und bevor er nicht gestorben ist, wird er hier und dort noch so massiv anecken, dass es davon gewiss Geschichten zu erzählen gibt…